Zugegeben, ich war sehr skeptisch, als ich anfing, Karin Smirnoffs „Verderben“ zu lesen. Zu mit- und hinreißend hatte ich die drei Millenium-Bände um den Starjournalisten Mikael Blomkvist und die Superhackerin Lisbeth Salander gefunden, die Stieg Larsson selbst geschrieben hatte. Zu nichtssagend hatte ich die Fortsetzungen gefunden, mit denen nach Stieg Larssons Tod David Lagercrantz betraut worden war. Aber: von Karin Smirnoffs „Verderben“ wurde ich aufs Angenehmste und Spannendste überrascht.
Die Autorin: Shooting Star ohne Krimierfahrung
Karin Smirnoff, geb.1964, hat erst 2018 ihren ersten Roman „Mein Bruder“ veröffentlicht; für die Veröffentlichung ihrer früheren Roman-Texte fehlte ihr als Mutter, Altenpflegerin, Karatelehrerin und Journalistin die Zeit. „Verderben“ ist ihr fünfter Roman und ihr erster Krimi. In Schweden war er ein Nummer-1-Bestseller.
Gierige Windenergiekonzerne und eine toughe Nichte von Lisbeth Salander
Smirnoff verlegt die Handlung ins kleine Gasskas in Nordschweden, dorthin, wo auch Smirnoff selbst lebt. Dünn besiedelt, neuerdings hochinteressant für internationale Konzerne, die mit Windenergie das große Geld machen wollen. Und Heimat von Svala: Vater tot, Mutter verschwunden, und vor allem: Nichte von Lisbeth Salander. Geniale Idee! Die obercoole Einzelkämpferin Salander lässt durch die Begegnung mit ihrer Nichte Risse in ihrem Panzer zu, obwohl sie die dreizehnjährige Svala doch eigentlich auf keinen Fall in ihr Leben einbauen wollte.
Svala wiederum ist eine mindestens ebenbürtige Figur: hochbegabt und ebenso fest entschlossen wie Lisbeth Salander, sich von all der Gewalt nicht klein kriegen zu lassen, die sie seit ihrer Kindheit erlebt hat. Beide weigern sich sozusagen, Opfer zu sein, oder genauer: sich als Opfer zu fühlen. Die Begegnungen zwischen Tante und Nichte gelingen Karin Smirnoff als großartige Szenen voller Witz, Stärke und Furchtlosigkeit.
Und was ist mit Mikael Blomkvist? Den findet Autorin Smirnoff langweilig, am liebsten hätte sie ihn umgebracht, wie sie im SPIEGEL-Interview sagt. Statt dessen gesteht sie ihm eine durchaus sinnvolle Entwicklung zu: sein Herzensprojekt, die Zeitschrift „Millenium“ wird nicht mehr gedruckt, er fühlt sich überflüssig, denn die moderne Medienlandschaft mit Blogs und Podcasts ist nicht so sein Ding. Auch er reist nach Grasskas, zur Hochzeit seiner Tochter. Deren Zukünftiger ist als Verwaltungsleiter der große Strippenzieher in Sachen Windpark – er muss bloss noch ein paar indigene Sami überzeugen, die ihr Land nicht zugunsten eines gigantischen großindustriellen Windparks verkaufen wollen. Als allerschlimmster Bösewicht von allen tritt schliesslich Marcus Branco auf. Der auch weiß, wohin Svalas Mutter verschwunden ist.
Pageturner, Wiedertreffen mit lange vermissten Figuren wie Salander und Blomkvist, schlüssige Weiterentwicklung dieser Figuren, eine grandiose neue Hauptfigur, ein schlüssiger Plot – was will man mehr! Und ich erfahre auch in diesem Buch ungemütliche Dinge über die Ausbeutung der Natur im dünn besiedelten schwedischen Norden im Namen der Energiewende, ein Thema, das ja auch bei Elisabeth Herrmann in „RAVNA – Arktische Rache“ die Geschichte hinter der Geschichte ist (vgl. meinen Blogeintrag dort). Überhaupt spielt bei Karin Smirnoff Gesellschaftskritik wieder eine große Rolle, so wie ursprünglich auch bei Stieg Larsson.
Ich freue mich schon sehr auf die beiden weiteren angekündigten Bände der Reihe Salander/Blomkvist/ Svala von Karin Smirnoff.
Karin Smirnoff, Verderben, Heyne, 463 S., 24 Euro, Übersetzt von Leena Fleegler, ET 23.8.23
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